Jürgen Klugmann
Jürgen Klugmann

Dr. Evamarie Blattner (Stadtmuseum Tübingen)

Befund 2666 / Jürgen Klugmann

 

Selten gehen mittelalterliches Bauwerk und dessen Nutzung so kongruent wie beim Tübinger Stadtmuseum, beherbergt das ehemalige Kornhaus doch innerhalb der historischen Dauerausstellung die Dokumentation der Stadtgeschichte: Beginnend mit der mittelalterlichen Abteilung, werden die Themen der Unter- und Oberstadt, von Kirche, Schloss und Universität abgehandelt, bis hin zur Industrialisierung und Inhalten des 20. Jahrhunderts. Die Geschichte des Hauses jedoch lässt sich noch viel weiter zurückverfolgen. Das Baudatum 1453 an der Südseite des Gebäudes bezieht sich auf den ältesten Baukörper, des heute aus ehemals zwei Häusern bestehenden Komplexes. Archäologische Grabungen des Landesdenkmalamtes anlässlich des kompletten Umbaus und der Grundsanierung zum Stadtmuseum in den Jahren 1985 bis 1992 legten offen, dass der stattliche Fachwerkbau inmitten des mittelalterlichen Stadtzentrums noch eine Vorgeschichte hatte. Die Schnitte im nördlichen Teil ergaben, dass dort die ältesten Befestigungen Tübingens lagen. Eine Besiedlung südlich der Ammer konnten die Ausgrabungen allerdings nicht bestätigen, man stieß lediglich auf vereinzelte Keramikfragmente und Reste einer ehemaligen Uferbefestigung der Ammer. Zwei rechteckige Gruben, möglicherweise zwei Halbkeller oder zwei einfache Kastengruben werden auf das späte 12. Jahrhundert datiert. Die Gruben waren mit einer Eichenholz-Konstruktion ausgebaut.1

Eine der besonders starken Holzschwellen der Bodenkonstruktion kam an der südöstlichen Ecke des großen Saales im Längsbau zu Tage (dem Schnitt 12, Fläche 14). Jürgen Klugmann war in den Jahren 1987/1988 als Ausgräber an dieser Stelle beteiligt. Von dem großen Balken wurde ein 10 cm breites Stück abgeschnitten, um dentrochronologisch untersucht und datiert zu werden. Der größere Teil des Balkens sollte entsorgt werden. Jürgen Klugmann faszinierten jedoch das genau festgelegte Fälldatum des Balkens auf das Jahr 1190/91, was unter Befund 2666 beim Landesdenkmalamt nun abgelegt ist, seine lange Geschichte und nicht zuletzt die Ästhetik des verwitterten, stark mitgenommenen, verformten und ausgemergelten Holzes. Er nahm ihn mit nach Hause. Dort stand er in einer Ecke seines Ateliers, wurde mehrmals umgezogen oder auch als Lampenständer eingesetzt – seine Geschichte also fortgeschrieben.

Als die Wahl auf Jürgen Klugmann fiel, sich an dem Projekt „Künstler im Dialog mit dem Stadtmuseum“ zu beteiligen, hatte er sich auf seine bisher eindrücklichste Kornhaus-Erfahrung besonnen und den Balken wieder hervorgeholt.
Er ist nun Ausgangspunkt für seine Arbeiten, die anlässlich dieses Projektes entstanden sind.

Zunächst umwickelte der Künstler den Balken mit einer Leinwand und nahm mit einem Grafitstift die tiefen Rillen des verwitterten Holzes ab, um dadurch seine Form und seine Oberfläche nachzuvollziehen. Seine Herangehensweise ähnelt der Arbeit eines Archäologen, der Schicht um Schicht abträgt, um Spuren der Vergangenheit aufzudecken. So sind zwei große Leinwandbilder entstanden, überzogen von einem waagrechten Lineament, wobei keine kräftigen, dynamischen Striche die Bilder bestimmen; es sind vielmehr vorsichtige, brüchige grafische Linien, denen man das Alter anzusehen scheint.

 

Als Weiteres bearbeite Klugmann die Schmalseiten des Balkens, glättete sie, färbte dann die Querschnitte schwarz ein und druckte sie auf Papier, was organische   Gebilde ergab. Über diese Formen legte er feine wissenschaftliche Zeichnungen in Bleistift, beispielsweise Jahresringe oder die Ergebnisse der dentrochronologischen Untersuchung. Einige farbliche Akzente sind den amorphen gedruckten Figuren gegenübergestellt.
Abriebe, Abformungen und Abdrucke sind häufig Thema in Klugmanns Kunst. Er nähert sich einerseits damit dem Gegenstand, indem er seine Morphologie in ein anderes Medium überträgt und lediglich die Form bar jeglicher medialen Rückbindung präsentiert. Die Textur der Oberfläche des alten Holzes mit ihren unterschiedlich tiefen Einkerbungen, Verletzungen und Auszehrungen ist genau übertragen. Somit sind neben der exakten Abformulierung der Oberfläche Geschichte, Alter und Vergänglichkeit, also Raum und Zeit in den Arbeiten Klugmanns thematisiert. 

 

Befund 2666 setzt die im vergangenen Jahr begonnen Reihe von Ausstellungen fort, in der sich Künstler zielgerichtet mit Themen des Stadtmuseums auseinandersetzen, seien es einzelne Exponate, die Architektur oder wie im Jahr zuvor das Depot als Aufbewahrungsort. Klugmann`s Auseinadersetzung mit der Baukunst des Kornhauses reflektiert auf indirekte Weise die Architektur und die lange Geschichte des Gebäudes. Von diesem konkreten Ausgangspunkt aus sind zwei Leinwandbilder, 25 Drucke und fünf Zeichnungen entstanden.

Mein Dank gilt zuallererst Jürgen Klugmann, der sich sensibel dem Thema näherte und damit unseren Blick auf Alter, Umbauten und Nutzung des Museumsgebäudes schärfte. Ferner dem Verein der Freunde des Stadtmuseums, der das Projekt seit Anbeginn großzügig unterstützt, und schließlich all denjenigen, die zum Erfolg der Ausstellung beigetragen haben und nicht einzeln genannt werden können.
Evamarie Blattner
 
     

1 Ausführlich nachzulesen bei Ingrid Gamer-Wallert, Geschichtsträchtiger Boden. Die archäologischen Grabungen unter dem Kornhaus, in: Claudine Pachnicke, Das Tübinger Kornhaus, Geschichte und Architektur eines Baudenkmals, Tübingen 2000, S. 11-19.



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