Jürgen Klugmann
Jürgen Klugmann

Dr. Thomas Schlereth

Rede zur Ausstellungseröffnung

Jürgen Klugmann LINIEN_FOLGEN

in der Galerie Künstrlerbund in Tübingen

 

 

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Besucherinnen und Besucher der Ausstellung,

 

als ich vor einigen Wochen einer ersten Auswahl der Exponate dieser Ausstellung gegenüber
stand, war der unmittelbare Eindruck, ruhig zu werden, fast stumm. Die Augen wandern die
Linien ab, vollziehen die Rhythmen und Gruppenbildungen nach, dann deren Verhalten zueinander und das Wechselspiel von Blatt zu Blatt: Bögen, Kurven, Geraden; Variationen, Kreuzungen, Interferenzen; Kugelschreiber, Farbstifte und Tuschen von trockenen Borstenpinseln; ihr Verlauf mal dünner, mal dicker – im Einzelfall nicht exakt zu kontrollieren. Und hinter diesem Geschehen der große helle Grund der Blätter, der durchscheint und an nicht wenigen Stellen frei gelassen zum Ausdruck kommt: Papierne Helligkeit – zwischen den Linien ebenfalls zur Linie geworden und ringsum wieder ganz Möglichkeitsraum und tragendes, rahmendes Licht.
Zusammengenommen geht von den Linien und ihrem Weißraum ein Moment des Puren aus:
Alles, was vorliegt, gibt sich zu erkennen. Ich sehe die Linien, ihren Lauf, zahlreiche Wiederholungen und Abwandlungen, weitere Varianzen in Duktus und Farbigkeit, und schließlich den lichten Ton der Papiere. Nun formt sich aus diesen Mitteln jedoch kein Motiv, das sich mit gleicher Direktheit erkennen und benennen ließe. Auch wenn es hier und da Anklänge an Landschaft geben mag – nimmt man die Blätter gemeinsam in den Blick und zieht man gegebenenfalls noch hinzu, was der Künstler in Sachen Landschaft bereits anderweitig zu Papier gebracht hat, dann wird klar, dass es bei den hier versammelten Zeichnungen mehr um Linien als solche denn um ihre motivischen Erweckungskräfte geht. Die graphischen Gebilde stehen für sich selbst und zeigen als solche offen in alle Richtungen nach außen in die Welt.
Dort, wo sich in anderen Fällen die Vorstellung einer motivischen Situation ausbildet, eröffnen die hiesigen Zeichnungen einen Freiraum. Nahe liegt es, diesen Raum mit anderen Dingen zu bestücken und zu füllen: Etwa mit den Traditionen abstrakter oder konkreter Zeichenkunst, oder mit Fragen nach der Linie an sich, was sie eigentlich sei und wohin sie Auge und Geist gegebenenfalls führen mag.
So fragte auch ich zuerst nach Referenzen, vor allem nach künstlerischen Positionen, die von
Bedeutung sein könnten. In Gedanken war ich bereits bei Norbert Kricke, Nasreen Mohamedi
und Agnes Martin. Norbert Kricke ging in der formalen Reduktion auf die Linie schon früh nach dem 2. Weltkrieg sehr weit. Auch hier steht jede Linienführung zuallererst für sich selbst. Dabei ist Kricke zwar vor allem für seine Metallplastiken bekannt, doch gibt es von ihm auch zahlreiche Arbeiten auf Papier. Ein Ensemble von Zeichnungen aus dem Jahre 1954 ist gerade in der neuen Städtischen  Sammlung  für  konkrete  Kunst  in  Reutlingen  zu  sehen.  An  Nasreen  Mohamedi ließen mich Zeichnungen denken, die sich auf das schrittweise Abwandeln und Überlagern von Lineaturen und graphischen Flächen konzentrieren. Das Einzelblatt wirkt dabei oft wie ein Ausschnitt aus einer größeren Struktur, was die ein oder andere Zeichnung von Jürgen Klugmann ebenfalls betrifft. Und Agnes Martin kam mir in den Sinn, da der Empfindungsreichtum purer Linien auch bei ihr eine tragende Rolle spielt. In stillen Farben sind die Linienläufe ihrer Bilder stets Teil einer geometrischen Struktur und führen doch ein Eigenleben.
Auf meine Frage nach künstlerischen Referenzen antwortete mir Jürgen Klugmann allerdings
nicht mit Namen von bildenden Künstlern, sondern mit zwei Komponisten: John Cage und
Morton Feldman. Der eine, John Cage, habe den Zufall kultiviert – man denke an die bekannte Komposition 4'33”aus dem Jahre 1957, die ganz aus Stille besteht. Für die Dauer der Aufführung bleibt jedes Instrument ungespielt. Dadurch werden die Geräusche, die von den Musikern wie den  Zuhörern  unwillkürlich  erzeugt  werden,  hörbar  und  zum  wesentlichen  Bestandteil  des Stücks. Der andere genannte Komponist, Morton Feldman, habe im Gegensatz dazu jedes Detail durchkomponiert. Das betrifft zumindest die letzte Phase seines Schaffens, die Jahre 1970–87.
Dabei verzichtet auch Feldman in vielen seiner Stücke auf eine motivische Entwicklung und
arbeitet stattdessen mit Wiederholungen, Pausen und subtilen Versatzmomenten. Aus einfachen Mitteln entsteht Komplexität. Nicht von ungefähr interessierte sich Feldman für die Bildende Kunst seiner Zeit (Rothko Chapel,1971), aber auch für alte Webtechniken (Coptic Light,1985).
Cage zum einen, Feldman zum anderen – das Interesse seines zeichnerischen Tuns, so Jürgen Klugmann, liege nun genau dazwischen: weder ganz beim Zufall noch ganz bei der Kontrolle und dem einen Vorgehen nicht näher als dem anderen. Das heißt konkret, dass sich im Entstehungsprozess der Blätter das eine wie das andere findet, Geschehen-lassen wie präzise Setzung, beides in austarierten Anteilen.
Das Moment der Kontrolle lässt sich bereits aus größerem Abstand erkennen. Hier treten vor
allem jene Linien in den Vordergrund, die gebündelt verlaufen. Eng beieinander folgen sie mit nur leichtem Versatz einem gemeinsamen Verlauf. Die Anzahl der Wiederholungen deutet auf ein hohes Maß an Ausdauer, sofern Linie für Linie einzeln gesetzt wurde. Tritt man etwas näher heran, bestätigt sich dieser Eindruck. Die einzelnen Läufe laufen annähernd, aber nicht exakt parallel zueinander. Und auch in sich nimmt jede Linie einmal mehr, einmal weniger Fläche und Deckkraft in Anspruch. Diese feinen Schwankungen deuten klar darauf hin, dass die Züge von Hand ausgeführt wurden. Umso mehr kann das relativ hohe Gleichmaß der Repetitionen erstaunen. Jürgen Klugmann machte mir gegenüber aus seinem Verfahren kein Geheimnis und bat mich auch nicht darum, es Ihnen gegenüber zurückzuhalten: Beim Zeichnen hilft ihm eine Konstruktion aus Holz und Draht, wobei der leicht zu verformende Draht als Führungsschiene für den Lauf von Stift oder Pinsel dient. Das Holz führt dahinter wie ein Steg über das Blatt und fungiert als Abstandhalter. Das heißt, der Draht liegt nicht direkt wie bei einer Schablone auf der Papierfläche auf, sondern verläuft in einigen Zentimetern darüber. Aus diesem Spielraum resultieren schließlich die leichten Abweichungen von Linie zu Linie. Und wenn anstelle dieser Führungskonstruktion bei anderen Blättern Besenstiele, Bügelsägen oder Glühbirnen zum Einsatz
kommen, verhält es sich mit diesem Spielraum ganz ähnlich.
Damit wird das zweite Moment sinnfällig, das die Kontrolle beim zeichnerischen Vorgehen herausfordert und davor bewahrt, einseitig zu wirken: Der Zufall ist Jürgen Klugmann mindestens ebenso lieb und wichtig. Sowohl die Winkelstellung als auch die Laufgeschwindigkeit, mit denen der Stift über das Blatt wandert, variieren bereits innerhalb eines Zuges. In der Konsequenz reiht sich, genau genommen, eine Abweichung an die nächste. Und sofern sich die Enden der Linien innerhalb eines Blattes befinden, laufen sie dort zumeist für ein kurzes Stück in freimütigen Arabesken aus. Als würde sich entladen, was sich im eher kontrollierten Abschnitt der Linie aufgestaut hat und sich in der dortigen Gleichmäßigkeit nicht zu Hause fühlte. Neben diesem Aufblühen und Ausreißen der Linienabschlüsse fallen schließlich – nun am besten ganz nahe vor den Blättern – auch in den geordneteren Zonen Querschläger auf: Manchmal sanfte, manchmal steile  Diagonalen,  bisweilen  auch  farbliche  Querakzente,  die  ganz  offensichtlich  eine  große Freude daran haben, aus der Reihe zu tanzen. Hier feiert die Ausdauer der Wiederholungen ihre Feste. Die Regel trägt die Ausnahme nicht nur bereits in sich, sondern gönnt sich obendrein
ausgewählte Steigerungen: Sonderzulagen an Abweichung und Eigensinn. Auf diese Weise bewegen sich die versammelten Blätter zwischen Kontrolle und Zufall: Keinem
der beiden Prinzipien zeigen sie sich verschlossen, jedoch sind sie auch keinem einseitig zugetan.
Je mehr der Blick auf Parallelitäten achtet, desto mehr wird er Schwankungen bemerken. Und wenn die Aufmerksamkeit umgedreht ganz auf die Abweichungen fokussiert, melden sich in jedem Blatt geordnete Strukturen, die es sämtlichen Querläufern ermöglichen, als solche erscheinen zu können.
Bleibt schließlich die Frage nach den kompositorischen Entscheidungen: Wie kommt es, dass die Linienbündel mal dieser, mal jener Form folgen? Sich mal loser, mal dichter arrangieren? Wie verhält es sich dabei – das Einzelblatt als Ganzes betrachtet – mit den Tendenzen zu Kontrolle oder Zufall? Diese Fragen führen an den Punkt zurück, an dem sich die Zeichnungen als Freiraum zeigten. Schnell geschieht es dort und man ist bereits dabei, diesen Freiraum zu bestücken und zu füllen. Ich bin Jürgen Klugmann dankbar dafür, dass er mir nicht mit Künstlernamen auf meine anfängliche Frage nach Referenzen antwortete. So schenkte er mir einige schöne Momente mit John Cage und Morton Feldman und ich behielt dabei die Augen frei. Mein Eindruck ist, dass die Kompositionen der Zeichnungen – als Ganzes und in ihrem Verhältnis zueinander – ebenfalls an einer Moment zwischen Kontrolle und Zufall arbeiten. Keine Linienführung taucht exakt nochmals in einem anderen Blatt auf, aber Ähnlichkeiten gibt es wohl. Dafür weicht dann aber  die  Gruppenformatierung  oder  die  Rhythmik  der  Störelemente  wieder  stärker  ab.  Der Purismus der Blätter entwickelt sich dadurch nicht zu einem Kult der Reinheit, sondern zeigt sich großzügig und locker: Präzision und Laisser-faire treten nicht schroff einander entgegen, sondern verweben sich bereits in der Einzellinie ineinander. Und so auch das Miteinander von Linie und Weißraum, Linie zu Linie, Bündel zu Bündel, Blatt zu Blatt. Auf dieser Basis kann der motivische Freiraum, den die Blätter lassen, nicht nur zum Anlass für diverse Assoziationen
werden, sondern auch als Freiraum selbst erscheinen. Vielleicht war es das, was meine Worte beim ersten Schauen in den Hintergrund treten ließ: Zuerst waren und zuerst sind die Augen an der Reihe

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